Von einer Berliner Kindheit

[Anzeige] Barfuß, aber glücklich! Ja, so ein Fahrrad, das kann schon ein großes Stück Freiheit bedeuten, oder? Und das Lächeln dazu ist unbezahlbar, gerade, wenn es sich dabei um Kinder handelt. Barbara Schilling stellt uns heute einen Auszug aus ihrem Roman “Meine Berliner Kindheit” vor.

Meine Berliner Kindheit (von Barbara Schilling)

[Textauszug/Anfang] Weitere Freizeitvergnügungen bescherte uns ein klappriges Fahrrad. Es hatte einer dicken Frau gehört, die unsere neidvollen Blicke bemerkt hatte, als sie eines Herbstnachmittages an uns vorbeigefahren war.

Sie hatte gewendet und ihren zahnlosen Mund beim Absteigen geöffnet:

„Na ihr drei, wo ist denn eure Mutter?”

„Nich´ da”, antwortete Gabriele in unbestreitbarer Logik.

„Das ist ein schönes Fahrrad”, bemerkte Julia schüchtern.

„Oh ja.” Die Frau strich behutsam über den rostigen Lenker.

„Man kann damit schnell wie der Wind fahr´n.”

Verträumt musterten wir den rissigen Ledersattel.

„So eins hätt ich auch gern“, gab ich zu. Julia nickte zustimmend.

„Wisst ihr, eigentlich brauche ich das Fahrrad gar nicht mehr.”

Hoffnung blitzte ein Julias Augen auf.

„Ich denke, ich werde es verkaufen.”

Wir sagten nichts.

Die Frau kam noch einen Schritt näher zu uns und fragte betont beiläufig:

„Hat denn eine von euch Jeld?”

Sie sah mich an. Ich schüttelte den Kopf.

„Hast du eine Uhr?”

Ich verneinte verschämt. Sie spielte an der Klingel und den Pedalen herum, schien nachzudenken. Dann beugte sie sich zu uns herunter.

„Zeigt mal eure Füße her. Na los, alle Mann.”

Verdutzt streckten wir unsere Füße aus.

„Hm.”

Sie spuckte auf meine Schuhe und begann sie mit ihrem schmutzigen Ärmel zu polieren.

Schließlich seufzte sie und richtete sich auf:

„Also Kinder, eigentlich kann ick das jar nicht tun. Aber weil ihr es seid und ick euch mag, biete euch einen Tausch an. Ich mache zwar ein sehr schlechtes Geschäft, aber ihr drei seid etwas Besonderet, dat hab ick im Jefühl.”

Das hatte uns noch niemand gesagt. Normalerweise waren nu ein paar von vielen anderen „schmutzijen Jör´n“. Gespannt lauschten wir ihren Worten.

„Also, wollt ihr dit Fahrrad haben?”

„Ja!” riefen wir sofort einstimmig.

„Dann gebt mir eure Schuhe.”

„Unsere Schuhe?“

„Ja, zieht alle eure Schuhe aus, ooch die Kleene da.“ Sie zeigte auf Gabrieles Füßchen, die in Julchens alten Halbschuhen verschwanden.

„Aber wir hab´n keene andern …”

„Wollt ihr nun Fahrradfahren oder laufen?”, unterbrach sie barsch Julias Einwand.

Die beiden Kleinen sahen mich fragend an. Ich war hin- und hergerissen zwischen Vernunft und Vergnügen. Irgendwo würden wir schon neue Schuhe herkriegen, aber ein Fahrrad … Ich nickte, obwohl ich ahnte, was uns dreien an diesem Abend zu Hause bevorstehen würde. Schweigend zogen wir unsere Schuhe aus und reichten sie der Frau.

Sie rümpfte theatralisch die Nase.

„Puh, die muss ick ja erstmal drei Wochen auslüften”, meckerte sie.

Sie drückte mir den Lenker in die Hand und verschwand mit unseren Schuhen eilig um die nächste Ecke, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

Barfuß und stolz wie Oskar schwang ich mich auf unser Fahrrad. Nun hatten wir tatsächlich ein eigenes Fahrrad. Frieda würde platzen vor Neid. Es war ein rostiges Herrenfahrrad ohne Luft in den Reifen, aber es fuhr. Und wie! Julia auf dem Gepäckträger und Gabriele vor mir auf der Stange sausten wir die Allee hinab. Wir gewannen rasch an Geschwindigkeit. Meine Schwestern jauchzten vor Vergnügen, während ich übermütig Fußgänger aus dem Weg klingelte. Immer wieder kam mir das Kinderlied „Zeigt her eure Füße, zeigt her eure Schuh´ …” in den Sinn auf dieser herrlich wilden Fahrt. Beinahe erwischten wir eine einäugige schwarze Katze und um ein Haar wären wir an einer Ampel von einem Laster überfahren worden.

Außer Atem und mit eiskalten Füßen kamen wir zu Hause an. Wir beschlossen, das Fahrrad im Kellereingang zu verstecken. Wir banden es mit allem fest, was wir finden konnten: Braune Strippe, ein löchriger Strumpf, Grasbüschel.

Unsere Mutter fiel fast in Ohnmacht, als sie uns ohne Schuhe erblickte, es gab ein Mordstheater, aber das Fahrrad durften wir behalten, da die Schuhe ja eh weg waren. Ich als Älteste musste einiges durchstehen, doch das war es mir wert, auch wenn ich die nächsten Tage nur im Stehen fahren konnte und wir uns alle drei einen mächtigen Schnupfen eingefangen hatten …

(Wir ergatterten durch einen Zufall ein verbogenes Schloss und verbargen unseren Schatz an wechselnden Verstecken, um es vor Dieben zu schützen. Unsere Ausflüge – zu dritt, später sogar zu viert – auf diesem Vehikel kosteten noch so manchen Milchzahn in den folgenden Jahren.)[Ende/Textauszug]

Produktinformation

Klappentext:

Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs geboren, wächst Helene vaterlos in Berlin auf. Mit Hilfe der resoluten Großmutter und einiger guter Freunde überstehen Helene und ihre junge Mutter die langen Bombennächte und den Einmarsch der Roten Armee. Doch auch nach Kriegsende wird die Lage nicht besser – die Stadt liegt in Trümmern, es herrschen Hunger und Not. Mit der Hochzeit der Mutter scheint das Leben für Helene zunächst leichter zu werden. Als in den nächsten Jahren nacheinander fünf Geschwister geboren werden, muss Helene sich endgültig von ihrer Kindheit verabschieden und als Älteste die Verantwortung übernehmen.

Der Roman erzählt von einer entbehrungsreichen Kindheit in der Kriegs- und Nachkriegszeit, aber auch von Mut und Menschlichkeit angesichts der Not. Eine berührende Geschichte, gewürzt mit dem typischen Berliner Humor.

Titel: Meine Berliner Kindheit

Autorin: Barbara Schilling

Verlag: Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

Auflage: 1. Auflage 2010

Umfang: 235 Seiten (gebundene Ausgabe)

Sprache: Deutsch

ISBN 978-3-475-54078-3


Text- und Bildhinweise:

Bei dem Textauszug und dem Produktbild handelt es sich um urheberrechtlich geschütztes Material und Eigentum der Autorin sowie des Verlags, die sich alle Rechte vorbehalten. Wir bedanken uns bei Barbara Schilling und Herrn Förg, dem Geschäftsleiter des Rosenheimer Verlagshauses, für die freundliche Genehmigung zur Verwendung des Textauszugs und des Produktbilds für diesen Beitrag.

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